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Orgelpredigt

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b Vitalianus (vor 657 – 672)

Biographie

In der Frühen Neuzeit galt Vitalian als derjenige Papst, der die Orgel in die Kirchenmusik einführte. Die Quellentexte, die dies belegen, sind in ihren Formulierungen jedoch nicht leicht zu interpretieren, sodass erhebliche Zweifel bestehen, ob der Begriff organum tatsächlich das Instrument meint (siehe dazu ausführlich Williams, Organ in Western Culture (1993), S. 7-12). In modernen Enzyklopädien wird Vitalians musikalische Tätigkeit daher lediglich auf die Förderung des Kirchengesangs bezogen:

Im Lateran baute V[italian] die schola cantorum aus, die durch Lb PersonGregor I. (ca. 540 – 604) Gregor I. begründet worden war, um Sänger für die neuen, komplizierten päpstlichen Riten im byzantinischen Stil auszubilden. (Pulsfort, Sp. 1516)

Ein Standardwerk, das für die Verbreitung der Information über Vitalians Einsatz für die Orgel verantwortlich wurde, war Lb PersonPlatina, Bartolomeo (1421–1481) Bartolomeo Platinas Papstchronik. 1479 erstmals gedruckt, erlebte sie zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen. In der Kölner Ausgabe von 1529 liest man über Vitalian: At Vitalianus cultui diuino intentus, & regulam ecclesiasticam composuit, & cantum ordinauit, adhibitis consonantiam (ut quidam uolunt) organis. (Platina, De vita pontificum (1529), S. 76)

Einen folgenreichen Irrtum führte etwa gleichzeitig Lb PersonMaffei, Raffaello (1451–1522) Volaterranus (Raffaele Maffei) in die Behandlung dieser historischen Episode ein, indem er den Papst Vitalian chronologisch falsch der Regierungszeit des byzantinischen Kaisers Lb PersonKonstantin III. von Byzanz (612–641) Konstantin III. zuordnete. Durch Lb PersonPraetorius, Michael (1571–1621) Michael Praetorius sollte diese Zuordnung weite Verbreitung finden.

In zahllosen Texten des 16. bis 18. Jahrhunderts dient als Beleg für die Einführung der Orgel in die Liturgie die Darstellung von Lb PersonMantuanus, Baptista (1447–1516) Baptista Mantuanus: Signius adiunxit, molli conflata metallo | Organa, quae festis resonant ad sacra diebus.

Eine quellenkritische Durchleuchtung dieser Überlieferung unternahm 1727 Lb PersonMattheson, Johann (1681–1764) Johann Mattheson (vgl. Mattheson, Der neue Ephorus (1727), S. 53f.). Später zeigte dann auch Lb PersonForkel, Johann Nikolaus (1749–1818) Nikolaus Forkel, dass dieses Zitat nicht der Fassung entspricht, wie sie in den zahlreichen Mantuanus-Ausgaben begegnet. Im 4. Buch der LVD16 S 7276 Libri Fastorum befindet sich am Ende des letzten Kapitels De anno Jobeleo, mvsica, organis, et campanis folgende Stelle: Adiunxere etiam molli conflata metallo / Organa, quae festis resonant ad stera diebus. (Mantuanus, Libri fastorum (1518), s.p., ohne Bogensignatur). Der Sachverhalt wird damit sehr viel allgemeiner wiedergegeben: Signius, unter welchem Vitalianus verstanden wird, wird nicht einmal genannt, und der Zusammenhang der Stelle beweist, daß die Rede nicht von einem einzigen Papst, sondern von dreyen, nehmlich von Bonifacius VII., Clemens VI. und Sixtus V. die Rede ist, von welchen der erstere das Jubelfest auf hundert, der andere auf funfzig und der dritte auf 25 Jahre verlegt hat. (Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik 2 (1801), S. 356f.)

Die abweichende Mantuanus-Stelle, die auch Lc PredigtautorLang, Johannes (1552–1609) Johannes Lang in seiner Orgelpredigt zitiert, verwendete nach unserem Kenntnisstand als erster der englische Theologe und Schriftsteller Lb PersonBale, John (1495–1563) John Bale in seiner erstmals 1538 in Basel erschienenen Papstgeschichte. Bale stellte bereits dem Vorwort seines Buchs ein Motto von Mantuanus voran und berief sich im Laufe seiner Darstellung immer wieder auf diesen Vorgänger. In der biographischen Notiz zu Papst Vitellianus Signinus (sic) erweiterte Bale die aus den Papstchroniken überlieferte Formulierung durch die ihm zugängliche Fassung der Mantuanus-Verse:

Vitellianus, patria Signinus uel Campanus, musicus insignis, Ecclesiasticam regulam scripsit, cantum in templis ordinauit, & organa per consonantias humanis uocibus adhibuit: iuxta illud Baptistae Mantuani, in quarto Fastorum libro: Signius adiunxit, molli conflata metallo | Organa, quae festis resonant ad sacra diebus. (Bale, Acta romanorum Pontificum (1558), S. 69)

Solange nicht eine entsprechende Fassung der Fasti als Quelle gefunden wird, liegt die Vermutung nahe, dass Bale die zitierten Mantuanus-Verse am Zeilenbeginn abwandelte, um sie seiner Aussage anzupassen. Die Entstehung einer abweichenden Überlieferung wäre demnach das Ergebnis eines Glossierungsvorgangs.

Bales Studie war weit verbreitet und könnte den Grund für die Rezeption des korrupten Zitates gelegt haben. Sie erschien auch in einer deutschen Übersetzung durch Lb PersonMüntzer, Zacharias (1530–1586) Zacharias Müntzer:

Vitellianus von Signia aus Campania/ ein trefflicher Musicus oder Senger/ hat die Kirchenordnung vnd Regel geschrieben/ den gesang in der Kirchen geordnet/ vnd die Orgeln durch zusammen lautende stimmen zu der menschen stimm gethan/ wie Baptista Mantuanus im 4. buch Fastorum schreibt: Die Orgeln Bapst Vitellian | Hat zu dem Kirchengesang gethan/| Die man auff Feirtag vnd Fest/| Hört klingen auff das allerbest. (Müntzer, Baleus Bäpstliche Geschichte (1571), S. 128)

Auch eine reformatorische theologische Schrift, Lb PersonWirth, Rudolf (1547–1626) Rodolphus Hospinianus' Lr QuellenHospinianus, De origine templorum (1587) M De origine, progressu, usu et abusu templorum ac rerum omnium, enthält das Mantuanus-Zitat mit der namentlichen Nennung Vitalians. Gegenüber Forkel ist so die Entstehung einer zweiten Textüberlieferung hervorzuheben, die im Bereich des Orgelschrifttums bis weit ins 18. Jahrhundert hinein dazu führte, dass man Vitalian als zentralen Akteur bei der Einführung der Orgel in den Gottesdienst ansah.

Quellen und Literatur

Portaldaten

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Empfohlene Zitierweise
DFG-Projekt »Orgelpredigt«. Digitale Edition, https://orgelpredigt.ur.de/E010273 (Version 1.00 vom 31. Januar 2020). DOI: 10.5283/orgelpr.portal
Letzte Änderung dieses Dokuments am 19. November 2021.

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